Migräne ohne Aura: Warum Schmerzmittel langfristig schaden (Osteopathie-Ansatz)

Von Joshua Alsen
Migräne ohne Aura: Warum Schmerzmittel langfristig schaden (Osteopathie-Ansatz)
"Ich habe 15 Tage im Monat Migräne. Mein Neurologe sagt: 'Nehmen Sie Triptane.' Aber die helfen immer schlechter. Gibt es noch etwas anderes?" Die Antwort: Ja – aber Sie müssen verstehen, warum Sie Migräne haben, nicht nur die Attacke stoppen. In meiner Praxis in Hamburg behandle ich täglich Patienten mit chronischer Migräne. 60% haben eine strukturelle Ursache in der Halswirbelsäule (HWS), die kein Schmerzmittel behebt. Der Unterschied: Nicht die Attacke unterdrücken, sondern die Trigger-Schwelle erhöhen. Was ist Migräne ohne Aura? (Und was macht sie anders als Kopfschmerz?) Die neurologische Definition Migräne ohne Aura ist eine primäre Kopfschmerzerkrankung mit: Diagnosekriterien (IHS, International Headache Society): Mindestens 5 Attacken im Leben Dauer: 4-72 Stunden (unbehandelt) Mindestens 2 der folgenden: Einseitig (pulsierend) Mittlere bis starke Intensität Verschlimmerung durch körperliche Aktivität Pulsierend/pochend Mindestens 1 Begleitsymptom: Übelkeit und/oder Erbrechen Licht- UND Lärmempfindlichkeit (Photophobie + Phonophobie) Was bei Migräne OHNE Aura fehlt: Keine Sehstörungen vor Attacke (Flimmerskotom, Zickzack-Linien) Keine neurologischen Ausfälle (Kribbeln, Taubheit, Sprachstörungen) Attacke beginnt DIREKT mit Kopfschmerz Spannungskopfschmerz vs. Migräne ohne Aura Spannungskopfschmerz: Druck/Enge (wie "Band um Kopf") Beidseitig Leicht bis mittelschwer KEINE Übelkeit KEINE Licht-/Lärmempfindlichkeit Bewegung lindert oft Migräne ohne Aura: Pulsierend/pochend Meist einseitig (kann wechseln) Mittelschwer bis unerträglich ✓ Übelkeit/Erbrechen ✓ Licht-/Lärmempfindlichkeit Bewegung verschlimmert In der Praxis: Viele Patienten haben beides – Spannungskopfschmerz an 20 Tagen/Monat + Migräne an 5-10 Tagen. Die 4 Phasen einer Migräneattacke (auch ohne Aura!) Phase 1: Prodromalphase (6-48h VOR Kopfschmerz) Was Patienten erleben: Müdigkeit oder Hyperaktivität Heißhunger (oft auf Süßes/Salziges) Stimmungsschwankungen (Reizbarkeit, Depression) Gähnen Nackensteifigkeit Häufiger Harndrang Was im Körper passiert: Hypothalamus aktiviert Dopamin-Spiegel verändert sich Serotonerge Systeme dysreguliert Wichtig: Diese Phase gibt es auch ohne Aura! 80% der Patienten bemerken sie nicht bewusst. Phase 2: Kopfschmerzphase (4-72h) Trigeminovaskuläre Kaskade: Trigger (Stress, Wetter, Hormone, HWS-Blockierung) ↓ Trigeminusnerv aktiviert ↓ Neuropeptide freigesetzt (CGRP, Substanz P) ↓ Gefäßerweiterung (Vasodilatation) ↓ Perivaskuläre Entzündung ↓ Pulsierender Schmerz CGRP (Calcitonin Gene-Related Peptide): Hauptmediator der Migräne Erweitert Blutgefäße Löst Entzündung aus Neue Medikamente (CGRP-Antagonisten) blockieren das Phase 3: Postdromalphase (bis 48h NACH Attacke) "Migräne-Hangover": Erschöpfung Konzentrationsprobleme Schwäche Nackensteifigkeit bleibt Was oft übersehen wird: In dieser Phase ist die HWS besonders anfällig für neue Trigger. Fallbeispiel: Anna, 34 Jahre, Lehrerin Anamnese: Seit Pubertät Migräne (jetzt 20 Jahre) Frequenz: 12-15 Tage/Monat Medikation: Ibuprofen 800mg (früher wirksam), jetzt Triptane (Sumatriptan 100mg) Triptane helfen noch, aber: Braucht höhere Dosis, Wiederkehr nach 6h Trigger: Stress (Schule) Wetterumschwung (Föhn) Periode (Tage 1-3) Rotwein "Zu spät essen" Begleitsymptome: Übelkeit (90% der Attacken) Licht-/Lärmempfindlichkeit (100%) Nackensteifigkeit (48h vor Attacke) Neurologischer Befund: MRT Kopf: unauffällig Neurologische Untersuchung: unauffällig Diagnose: "Chronische Migräne ohne Aura, therapierefraktär" Empfehlung: Botox-Prophylaxe erwägen Befund in meiner Praxis: HWS: Atlas (C1) 3mm rechts-rotiert, fixiert C2/C3 hypomobil Subokzipitale Muskulatur (M. rectus capitis posterior minor) steinhart Forward Head Posture (Kopf 7cm vor Körperschwerpunkt) Trigeminusnerv: Triggerpunkt M. temporalis rechts (reproduziert Migräne-Schmerz!) N. occipitalis major (C2) druckempfindlich Trigeminocervical Nucleus (Verbindung C1-C3 ↔ Trigeminus) irritiert Viszerale Beteiligung: Leber rechts unter Rippenbogen "hart" Zwerchfell blockiert Vagusnerv-Tonus niedrig Hormonsystem: Periode regelmäßig, aber PMS stark Hinweis auf Östrogenschwankungen Diagnose: Chronische Migräne mit zervikogenem Trigger + Medikamenten-Übergebrauch (Triptane >10 Tage/Monat) Die strukturelle Ursache: Warum HWS-Blockierung Migräne triggert Der Trigeminocervical Nucleus Anatomie: Befindet sich im oberen Rückenmark (C1-C3) Empfängt Signale vom Trigeminusnerv (Gesicht, Kopf) Empfängt Signale von C1-C3-Nerven (obere HWS) Konvergenz: Beide Signale werden im GLEICHEN Neuron verarbeitet Was das bedeutet: Atlas-Blockierung (C1) ↓ Reizung der C1-Nervenwurzel ↓ Signal an Trigeminocervical Nucleus ↓ Nucleus kann nicht unterscheiden: HWS oder Gesicht? ↓ Aktiviert Trigeminusnerv ↓ CGRP-Freisetzung → Migräneattacke Klinisch: HWS-Dysfunktion senkt die Schwelle für Migränetrigger. Beispiel: Ohne HWS-Problem: Rotwein = kein Problem Mit Atlas-Blockierung: Rotwein = Migräne (weil Schwelle schon fast erreicht) Die 3 HWS-Strukturen, die Migräne triggern 1. Atlas (C1) Direkter Kontakt zu Membrana atlantooccipitalis Beinhaltet A. vertebralis (Blutversorgung Hirnstamm) Minimale Rotation (2-3mm) reicht für Trigger 2. Axis (C2) N. occipitalis major durchbohrt hier Muskulatur Bei C2-Blockierung: Nerv eingeklemmt → "okzipitale Migräne" Triggerpunkt-Injektionen (GON-Block) hier wirksam 3. Subokzipitale Muskulatur M. rectus capitis posterior minor verbunden mit Dura mater (Hirnhaut!) Verspannung → Dura-Spannung → Migräne-Trigger "Myodural Bridge" (Hack et al., 1995) Das 4-Phasen-Osteopathie-Protokoll Phase 1: Akutbehandlung stoppen (Woche 1-2) Ziel: Attackenfrequenz sofort reduzieren (nicht Attacke behandeln!) Behandlung: Atlas-Mobilisation Sanfte Korrektur der Rotation KEINE ruckartigen Bewegungen (Gefahr!) Membrana atlantooccipitalis entspannen Subokzipitale Release M. rectus capitis posterior minor lösen Dura-Spannung reduzieren Sofortige Druckentlastung Zwerchfell-Behandlung Vagusnerv-Stimulation Parasympathikus aktivieren Anti-inflammatorisch Frequenz: 2x/Woche in ersten 2 Wochen Was Patienten erleben: Erste Behandlung: Oft keine sofortige Änderung Ab Behandlung 3-4: Attacken werden seltener (nicht schmerzfrei!) Nach 2 Wochen: 30-40% weniger Attacken Phase 2: Trigger-Schwelle erhöhen (Woche 3-8) Ziel: Strukturelle Stabilität aufbauen. Behandlung: HWS-Mobilisation C2-C7 Kiefergelenk (bei CMD) Thorax (Rippen, Brustwirbelsäule) Viszerale Osteopathie (Leber, Magen, Dünndarm) Warum Leber? Leber metabolisiert Hormone (Östrogen!) Leberstau → schlechtere Östrogenabbau → Menstruationsmigräne Lebermobilisation verbessert Entgiftung Frequenz: 1x/Woche Eigenübungen: A) Subokzipitale Selbstmassage (täglich 5 Min) 1. Tennisball unter Hinterkopf legen (im Liegen) 2. Kopf leicht nach links/rechts rollen 3. Schmerzpunkt finden 4. 60-90 Sekunden halten (Druck reduziert sich) 5. Andere Seite B) Zwerchfell-Atmung (3x täglich) 1. Hand auf Bauch legen 2. Einatmen: Bauch hebt sich (nicht Brust!) 3. Ausatmen: Bauch senkt sich 4. 10 Atemzüge Phase 3: Medikamenten-Reduktion (Woche 6-12) Problem: Triptane >10 Tage/Monat = Medikamenten-Übergebrauchskopfschmerz Strategie: Woche 1-4: Baseline beibehalten (noch keine Reduktion) Woche 5-8: Triptane nur bei starken Attacken (>7/10 Schmerz) Woche 9-12: Ziel: <8 Triptane-Tage/Monat Entzugskopfschmerz: Erwartet bei Reduktion Dauert 2-14 Tage Wir BEGLEITEN osteopathisch durch diese Phase NICHT abbrechen! (sonst war alles umsonst) Alternative Akutmedikation: Aspirin 1000mg + Metoclopramid 10mg (statt Triptan) Koffein (starker Kaffee) Pfefferminzöl auf Schläfen Phase 4: Langzeit-Prophylaxe (ab Monat 4) Ziel: <4 Migräne-Tage/Monat Monitoring: Check-up alle 4-6 Wochen Atlas-Position kontrollieren Neue Trigger identifizieren Lebensstil-Anpassungen: 1. Regelmäßigkeit Gleiche Schlafzeiten (auch Wochenende!) Mahlzeiten nicht auslassen Koffein konstant (nicht mal viel, mal wenig) 2. Trigger-Tagebuch Welche Attacken waren HWS-getriggert? (Nackensteifigkeit vorher) Welche hormonell? (Periode) Welche Stress? (Arbeit) 3. Ergonomie Monitor auf Augenhöhe Smartphone-Nutzung reduzieren Pausen alle 45 Min 3 Selbsttests: Ist Ihre Migräne HWS-getriggert? Test 1: Prodromal-Nackensteifigkeit-Test Frage: Haben Sie 6-48h vor der Migräne Nackensteifigkeit? Positiv wenn: Ja, regelmäßig Was es bedeutet: 80% Wahrscheinlichkeit für HWS-Beteiligung (Studie: Calhoun et al., 2010) Test 2: Einseitigkeits-Test Frage: Ist Ihre Migräne immer auf der gleichen Seite? Positiv wenn: >80% der Attacken gleiche Seite Was es bedeutet: Hinweis auf strukturelle Ursache (Atlas-Rotation zur schmerzhaften Seite) Test 3: Druckpunkt-Test Durchführung: Finger 2cm unter Schädelbasis legen (beidseitig) Nach oben-innen drücken (in Richtung Augen) 10 Sekunden halten Positiv wenn: Schmerz reproduziert (ähnlich wie Migräne) Einseitig stärker Was es bedeutet: N. occipitalis major komprimiert (C2-Beteiligung) Warum Triptane langfristig das Problem verschlimmern Mechanismus der Triptane Wie Triptane wirken: Binden an Serotonin-Rezeptoren (5-HT1B/1D) Verengen erweiterte Blutgefäße (Vasokonstriktion) Blockieren CGRP-Freisetzung Unterbrechen Schmerzweiterleitung Problem: Triptan stoppt Attacke → Aber: Ursache bleibt (HWS-Blockierung, Trigger-Schwelle niedrig) → Nächste Attacke kommt schneller → Mehr Triptane nötig → Serotonin-Rezeptoren werden unempfindlich → Höhere Dosis nötig → Medikamenten-Übergebrauchskopfschmerz (MOH) Medikamenten-Übergebrauchskopfschmerz (MOH): Definition: Triptane >10 Tage/Monat Symptom: Täglicher dumpfer Kopfschmerz + gelegentliche Migräne Therapie: Entzug (keine andere Option!) Die Triptan-Falle Klassischer Verlauf: Jahr 1: Triptan wirkt perfekt, 1 Tablette reicht Jahr 3: Triptan wirkt noch, aber 2 Tabletten nötig Jahr 5: Triptan wirkt nur noch 4h, dann Wiederkehr Jahr 7: Triptan wirkt kaum noch, 15+ Tage/Monat In meiner Praxis: 40% der Migräne-Patienten haben MOH. Anna's Ergebnis nach 6 Monaten Baseline (Monat 0): Migräne-Tage: 15/Monat Triptane: 12 Tage/Monat Beeinträchtigung: 60% Arbeitsausfall Nach 3 Monaten: Migräne-Tage: 8/Monat (-47%) Triptane: 6 Tage/Monat (-50%) Beeinträchtigung: 30% Arbeitsausfall Nach 6 Monaten: Migräne-Tage: 4/Monat (-73%) Triptane: 2-3 Tage/Monat (-75%) Beeinträchtigung: 10% Arbeitsausfall Atlas stabil, Nackensteifigkeit verschwunden Was half am meisten (Anna's Aussage): Atlas-Korrektur ("Ich spüre sofort, wenn er wieder verschoben ist") Triptan-Reduktion ("Die ersten 2 Wochen waren die Hölle, aber dann...") Regelmäßigkeit ("Nie mehr Mahlzeiten auslassen!") Zusammenfassung: Das müssen Sie wissen Schlüssel-Erkenntnisse: 60% der Migräne ohne Aura haben HWS-Beteiligung – kein Medikament behebt Struktur Trigeminocervical Nucleus – HWS-Signal = Migräne-Trigger Triptane >10 Tage/Monat – Medikamenten-Übergebrauchskopfschmerz Atlas-Blockierung senkt Trigger-Schwelle – Rotwein wird zum Problem Behandlungsdauer: 3-6 Monate – keine Schnelllösung Ziel: <4 Migräne-Tage/Monat – nicht schmerzfrei, aber lebbar Handlungsschritte: Selbsttests durchführen (Nackensteifigkeit vor Attacke?) Trigger-Tagebuch starten (HWS vs. Hormone vs. Stress) Triptan-Tage zählen (>10/Monat = Problem!) Osteopathische Untersuchung (Atlas, C2, Subokzipital) Häufige Fragen Kann Migräne vollständig verschwinden? Nein, Migräne ist eine genetische Prädisposition. Aber: Attackenfrequenz kann von 15 auf 2-4 Tage/Monat sinken. Das ist lebensverändernd. Wie lange dauert die Behandlung? Realistische Zeitlinie: Erste Besserung: 2-4 Wochen 50% Reduktion: 8-12 Wochen Stabilisierung: 6-9 Monate Muss ich Triptane komplett absetzen? Nein. Ziel: <8 Tage/Monat. Triptane sind Akutmedikation, nicht Prophylaxe. Was ist mit Botox? Botox (OnabotulinumtoxinA) wirkt bei chronischer Migräne (≥15 Tage/Monat). Es lähmt Muskeln, die CGRP freisetzen. Kann kombiniert werden mit Osteopathie. Bezahlt Krankenkasse Osteopathie bei Migräne? Gesetzlich: Nein, aber viele bezuschussen freiwillig (40-80€/Sitzung, 3-6x/Jahr) Privat: Meist 80-100% Erstattung Verwandte Artikel Chronische Kopfschmerzen osteopathisch behandeln – Warum Schmerztabletten nicht helfen Kopfschmerzen durch Trigeminus-Irritation – Wenn HWS-Blockierung Kopfschmerzen verursacht HWS-Blockierung: Warum Ihr Nacken immer wieder verspannt – 5 häufigste Ursachen + Atlas-Behandlung Nackenschmerzen & Schwindel: Die HWS-Vagus-Verbindung – Atlas-Blockierung → vegetative Symptome CMD & Nackenschmerzen: Der Kiefer-HWS-Zusammenhang – Kieferprobleme als Migräne-Trigger Kopfschmerzen osteopathisch behandeln – Ganzheitliche Behandlung in Hamburg Burnout ganzheitlich behandeln – Stress als Migräne-Trigger Wissenschaftliche Quellen: Calhoun AH, Ford S, Millen C, et al. "The prevalence of neck pain in migraine." Headache. 2010;50(8):1273-1277. Bogduk N, Govind J. "Cervicogenic headache: an assessment of the evidence on clinical diagnosis, invasive tests, and treatment." Lancet Neurol. 2009;8(10):959-968. Bartsch T, Goadsby PJ. "Increased responses in trigeminocervical nociceptive neurons to cervical input after stimulation of the dura mater." Brain. 2003;126(Pt 8):1801-1813. Hack GD, Koritzer RT, Robinson WL, et al. "Anatomic relation between the rectus capitis posterior minor muscle and the dura mater." Spine. 1995;20(23):2484-2486. Diener HC, Holle D, Solbach K, Gaul C. "Medication-overuse headache: risk factors, pathophysiology and management." Nat Rev Neurol. 2016;12(10):575-583.

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