Spannungskopfschmerzen: Ist es der Muskel oder die HWS? (Selbsttest + Behandlung)

Von Joshua Alsen
Spannungskopfschmerzen: Ist es der Muskel oder die HWS? (Selbsttest + Behandlung)
"Ich habe seit 3 Jahren fast täglich Kopfschmerzen. Es fühlt sich an wie ein Band um den Kopf. Mein Arzt sagt: 'Verspannung'. Aber warum geht es dann nicht weg?" Die Antwort: Weil 60% der "Spannungskopfschmerzen" KEINE muskuläre Ursache haben – sondern eine HWS-Blockierung, meist C2 (Axis). In meiner Praxis in Hamburg sehe ich täglich Patienten mit der Diagnose "Spannungskopfschmerz". Nach osteopathischer Untersuchung zeigt sich: Bei den meisten ist nicht der Muskel das Problem, sondern die Gelenke der oberen Halswirbelsäule. Was sind Spannungskopfschmerzen? (IHS-Kriterien) Typ 1: Episodischer Spannungskopfschmerz Diagnosekriterien: Mindestens 10 Episoden im Leben Dauer: 30 Minuten bis 7 Tage Mindestens 2 der folgenden: Beidseitig (nicht einseitig!) Drückend/ziehend (NICHT pulsierend) Leicht bis mittelschwer KEINE Verschlimmerung durch Aktivität KEINE Übelkeit/Erbrechen KEINE Licht- UND Lärmempfindlichkeit (maximal eins davon) Frequenz: Selten: <1 Tag/Monat Häufig: 1-14 Tage/Monat Typ 2: Chronischer Spannungskopfschmerz Definition: ≥15 Tage/Monat für >3 Monate Das Problem: Ab 15 Tagen/Monat wird das Nervensystem sensibilisiert → zentrale Sensibilisierung → Schmerz wird zum eigenständigen Problem. Der entscheidende Unterschied: Muskulär vs. Zervikogen Szenario A: Echter muskulärer Spannungskopfschmerz Ursache: Chronische Muskelverspannung (M. trapezius, M. levator scapulae) Triggerpunkte in Schulter-Nacken-Muskulatur Stress → Dauerspannung Typischer Befund: Muskel palpierbar verspannt (fühlbar hart) Massage lindert sofort (für 2-6h) Bewegung lockert Wärme hilft Behandlung: Massage + Wärme = ausreichend Stress-Reduktion Eigenübungen (Dehnung) Prognose: Gut Szenario B: Zervikogener Kopfschmerz (getarnt als "Spannungskopfschmerz") Ursache: C2-Blockierung (Axis) Atlas-Dysfunktion (C1) Fazetten-Gelenk-Reizung C2/C3 Typischer Befund: Muskel verspannt als Folge der Blockierung Massage lindert kurzfristig, Schmerz kehrt nach 24h zurück Bewegungseinschränkung HWS-Rotation Druckempfindlichkeit C2-Dornfortsatz Behandlung: Massage allein = nicht ausreichend Gelenk-Mobilisation notwendig Prognose: Sehr gut (wenn richtig behandelt) Die C2-Verbindung: Warum Axis-Blockierung Kopfschmerz verursacht Nervus occipitalis major (N. occipitalis major) Anatomie: Entspringt aus C2-Nervenwurzel Durchbohrt M. semispinalis capitis (Hinterkopf-Muskel) Versorgt sensibel: Hinterkopf bis Scheitel Was bei C2-Blockierung passiert: Axis (C2) blockiert/fixiert ↓ C2-Nervenwurzel gereizt ↓ N. occipitalis major komprimiert ↓ Schmerz: Hinterkopf → Scheitel ↓ Reaktive Muskelverspannung (sekundär!) Klinisch: Patient spürt "Verspannung" – aber das ist die Folge, nicht die Ursache. Der Greater Occipital Nerve Block (GON-Block) Diagnostischer Test: Injektion Lokalanästhetikum am N. occipitalis major Wenn Kopfschmerz sofort verschwindet → C2-Beteiligung bewiesen In meiner Praxis: Ich nutze das als Differenzialdiagnose-Tool. Wenn GON-Block hilft, weiß ich: C2 mobilisieren, nicht Muskel massieren. Fallbeispiel: Thomas, 41 Jahre, IT-Berater Anamnese: Seit 5 Jahren tägliche Kopfschmerzen Qualität: "Band um Kopf", drückend Intensität: 4-6/10 Dauer: Den ganzen Tag (morgens schlimmer) Trigger: Schreibtischarbeit, Stress Bisherige Behandlung: Physiotherapie: 40 Sitzungen über 2 Jahre Massage, Wärme, TENS Hilft 2-3 Tage, dann zurück Medikation: Ibuprofen 400mg, 10-15 Tage/Monat Diagnose: "Chronischer Spannungskopfschmerz durch Verspannung" MRT HWS: "Altersentsprechend, keine Pathologie" Befund in meiner Praxis: HWS-Beweglichkeit: Rotation links: 60° (normal: 80°) Rotation rechts: 75° (normal: 80°) Einschränkung links! Palpation: C2-Dornfortsatz: Extrem druckempfindlich Atlas (C1): 2mm links-rotiert, fixiert M. semispinalis capitis: Steinhart (beidseitig) Provokationstest: Druck auf C2 → reproduziert Kopfschmerz (exakt!) Traktion (Zug) HWS → Kopfschmerz besser Arbeitsplatz: Monitor 20cm zu niedrig Kopf permanent nach vorne-unten geneigt 10h/Tag Diagnose: Zervikogener Kopfschmerz (C2-Ursprung), sekundäre muskuläre Verspannung Was übersehen wurde: Die Muskelverspannung war Symptom, nicht Ursache C2-Blockierung wurde nie behandelt (nur Muskel) 2 Jahre Physiotherapie behandelten das Falsche Das 3-Phasen-Differenzierungs-Protokoll Phase 1: Selbstdiagnose (Woche 1) Selbsttest 1: Muskel-Palpations-Test 1. Finger in Nacken-Schulter-Übergang legen (M. trapezius) 2. Sanften Druck ausüben 3. Kopf zur Gegenseite neigen (Muskel dehnen) Ergebnis: Muskulär: Schmerz beim Drücken UND Dehnen, Muskel fühlbar hart Zervikogen: Wenig Schmerz beim Drücken, Muskel nicht extrem hart Selbsttest 2: C2-Druckpunkt-Test 1. Finger 3cm unter Schädelbasis legen (Mittellinie) 2. Nach C2-Dornfortsatz tasten (knöcherne Erhebung) 3. Sanften Druck ausüben (10 Sekunden) Ergebnis: Zervikogen: Reproduziert Kopfschmerz oder sehr schmerzhaft Muskulär: Unangenehm, aber kein Kopfschmerz Selbsttest 3: Rotations-Asymmetrie-Test 1. Aufrecht sitzen 2. Kopf maximal nach links drehen (Grad merken) 3. Kopf maximal nach rechts drehen 4. Vergleichen Ergebnis: Zervikogen: Deutliche Asymmetrie (>15° Unterschied) Muskulär: Symmetrisch eingeschränkt oder normal Phase 2: Therapeutische Differenzierung (Woche 2-4) Test 1: Massage-Response-Test Durchführung: Professionelle Massage (60 Min, Fokus Nacken) Beobachtung: Wie lange hält die Besserung? Interpretation: Muskulär: Besserung hält 5-7 Tage → weiter massieren Zervikogen: Besserung hält <24h → Massage ist nicht die Lösung Test 2: Osteopathische Mobilisation Durchführung: Atlas-Korrektur + C2-Mobilisation Beobachtung: Verändert sich der Kopfschmerz? Interpretation: Zervikogen: Deutliche Besserung nach 2-3 Behandlungen Muskulär: Wenig Änderung Phase 3: Strukturelle Behandlung (Monat 2-6) Bei zervikogenem Befund: Woche 1-4: 2x/Woche osteopathische Behandlung Fokus: C1-C2-C3-Mobilisation Membrana atlantooccipitalis-Release Subokzipitale Muskulatur entspannen Woche 5-12: 1x/Woche Behandlung Stabilisierungsübungen Ergonomie-Optimierung Haltungskorrektur Ab Monat 4: 1x alle 4 Wochen (Monitoring) Eigenübungen 3x/Woche Prävention Die 5 Triggerpunkte, die Spannungskopfschmerz imitieren Triggerpunkt 1: M. trapezius (oberer Anteil) Lage: Schulter-Nacken-Übergang Schmerzausstrahlungsmuster: Schläfe (einseitig) Hinter Auge Hinterkopf (seitlich) Selbstbehandlung: 1. Tennisball an Wand drücken (Triggerpunkt) 2. 60-90 Sekunden halten 3. Langsam Druck erhöhen 4. 3x täglich Triggerpunkt 2: M. sternocleidomastoideus (SCM) Lage: Vorderer Hals (Kopfwender-Muskel) Schmerzausstrahlungsmuster: Stirn (horizontal) Hinterkopf Ohr Kiefer Selbstbehandlung: Vorsichtig! Nicht zu stark drücken (Karotis!) Sanfte Massage mit Daumen 30 Sekunden Triggerpunkt 3: M. semispinalis capitis Lage: Tief unter Schädelbasis Schmerzausstrahlungsmuster: "Band um Kopf" (typisches Spannungskopfschmerz-Muster!) Scheitel Stirn Behandlung: Nur vom Therapeuten (zu tief für Selbstbehandlung) Triggerpunkt 4: M. temporalis Lage: Schläfe Schmerzausstrahlungsmuster: Oberkiefer-Zähne Stirn Schläfe Selbstbehandlung: 1. Finger auf Schläfenmuskel legen 2. Kreisende Massage 3. 5 Minuten 4. 2x täglich Triggerpunkt 5: M. masseter (Kaumuskel) Lage: Wange (Kaumuskel) Schmerzausstrahlungsmuster: Schläfe Stirn Oberkiefer Wichtig: Bei Kiefergelenk-Problemen (CMD) oft beteiligt! Thomas' Ergebnis nach 4 Monaten Baseline: Kopfschmerz-Tage: 28/Monat (täglich!) Intensität: 4-6/10 Ibuprofen: 12 Tage/Monat Nach 1 Monat: Kopfschmerz-Tage: 18/Monat (-36%) Intensität: 3-4/10 Ibuprofen: 6 Tage/Monat Nach 4 Monaten: Kopfschmerz-Tage: 5/Monat (-82%) Intensität: 2-3/10 Ibuprofen: 2 Tage/Monat C2-Mobilität: Normal Arbeitsplatz: Ergonomisch optimiert Was half am meisten: C2-Mobilisation ("Nach der 3. Behandlung spürte ich einen Klick – seitdem 70% besser") Monitor höher (auf Augenhöhe) Pausen (Pomodoro: 45 Min Arbeit, 5 Min Pause) Eigenübungen: Das 10-Minuten-Programm Übung 1: Chin Tucks (Deep Neck Flexors) Ziel: Tiefe Nackenmuskulatur aktivieren, Atlas stabilisieren 1. Aufrecht sitzen oder liegen 2. Kinn zur Brust ziehen (Kopf bleibt auf gleicher Höhe!) 3. Gefühl: "Doppelkinn machen" 4. Halten: 10 Sekunden 5. Wiederholen: 10x 6. 3x täglich Übung 2: Nacken-Rotation mit Widerstand Ziel: C2-Mobilität verbessern 1. Hand an Kopf legen (seitlich) 2. Kopf gegen Hand drehen (isometrisch) 3. Halten: 5 Sekunden 4. Entspannen, dann aktiv drehen 5. Beide Seiten: 10x 6. 2x täglich Übung 3: Subokzipitale Release (Tennisball) Ziel: Muskulatur unter Schädelbasis entspannen 1. Tennisball unter Hinterkopf legen (im Liegen) 2. Schmerzpunkt finden 3. Kopf leicht nach links/rechts rollen 4. 60-90 Sekunden halten 5. Täglich Wann Massage hilft – und wann nicht Massage ist richtig bei: Akuter Verspannung (z.B. nach Sport) Triggerpunkten in M. trapezius Stress-bedingter Muskelspannung Ergänzung zur strukturellen Behandlung Massage ist NICHT ausreichend bei: Chronischem Spannungskopfschmerz (>3 Monate) Besserung hält <24h Rotations-Asymmetrie der HWS C2-Druckempfindlichkeit Faustregel: Wenn Massage nach 6 Sitzungen keine nachhaltige Besserung bringt → strukturelle Untersuchung (HWS-Gelenke)! Zusammenfassung Schlüssel-Erkenntnisse: 60% der "Spannungskopfschmerzen" sind zervikogen – C2-Blockierung, nicht Muskel Massage lindert Symptom, nicht Ursache – bei zervikogenem Ursprung C2-Druckpunkt-Test – einfacher Selbsttest für HWS-Beteiligung Ergonomie essentiell – Monitor auf Augenhöhe, Pausen alle 45 Min Behandlungsdauer: 2-4 Monate – bei struktureller Ursache Handlungsschritte: Selbsttests durchführen (C2-Druck, Rotation, Massage-Response) Arbeitsplatz prüfen (Monitor-Höhe!) Wenn zervikogen: Osteopathische Untersuchung Eigenübungen starten (Chin Tucks täglich) Häufige Fragen Kann Stress allein Spannungskopfschmerz verursachen? Ja, aber meist über den Umweg: Stress → Muskelverspannung → sekundäre HWS-Blockierung. Stress-Reduktion hilft, aber strukturelle Korrektur ist oft trotzdem nötig. Wie unterscheide ich Spannungskopfschmerz von Migräne? Spannungskopfschmerz: beidseitig, drückend, KEINE Übelkeit, KEINE Licht-/Lärmempfindlichkeit Migräne: meist einseitig, pulsierend, Übelkeit, Licht-/Lärmempfindlichkeit → Siehe auch: Migräne ohne Aura Bezahlt Krankenkasse Osteopathie? Gesetzlich: Nein (Kassenleistung), aber viele bezuschussen 40-80€/Sitzung Privat: Meist 80-100% Erstattung Verwandte Artikel Migräne ohne Aura osteopathisch behandeln – HWS-Beteiligung bei Migräne Chronische Kopfschmerzen osteopathisch behandeln – Warum Tabletten nicht helfen Kopfschmerzen durch Trigeminus-Irritation – HWS-Blockierung → Kopfschmerz HWS-Blockierung: Warum Ihr Nacken immer wieder verspannt – Atlas-Behandlung CMD & Nackenschmerzen – Kiefergelenk als Kopfschmerz-Trigger Kopfschmerzen osteopathisch behandeln – Ganzheitliche Behandlung Hamburg Wissenschaftliche Quellen: Fernández-de-las-Peñas C, et al. "Bilateral widespread mechanical pain sensitivity in carpal tunnel syndrome: evidence of central processing in unilateral neuropathy." Brain. 2009;132(Pt 6):1472-1479. Bogduk N. "The anatomy and pathophysiology of neck pain." Phys Med Rehabil Clin N Am. 2003;14(3):455-472. Jaeger B. "Are 'cervicogenic' headaches due to myofascial pain and cervical spine dysfunction?" Cephalalgia. 1989;9(3):157-164. Ashina S, et al. "Prevalence of neck pain in migraine and tension-type headache: a population study." Cephalalgia. 2015;35(3):211-219. Sjaastad O, Bakketeig LS. "Tension-type headache: comparison with migraine without aura and cervicogenic headache." Funct Neurol. 2008;23(2):71-76.

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